Meinungsbeitrag Wiebke Esdar: Ersparnisse behalten und Chancen bekommen

Was macht eine gute Sozialpolitik aus? Erstens, dass ein bürgerfreundlicher Staat den Menschen hilft. Zweitens, dass es die Unterstützung gibt, damit alle ihre Chancen nutzen und das Beste aus ihrem Leben machen können. Und drittens, dass wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Würde jedes Einzelnen schützen. Daher ist es höchste Zeit, dass wir Hartz IV abschaffen.

Hartz IV ist ein Schlag gegen Zusammenhalt und Würde. Denn wer arbeitslos ist, der wird heute aus der Mitte unserer Gesellschaft gedrängt. Menschen müssen merken, dass sie Bürgerinnen und Bürgern mit eigenen Rechten sind. Doch in Wirklichkeit werden Arbeitssuchende und Arbeitslose in Jobcentern als „Kunden“ behandelt und die Unterstützung bei der Arbeitssuche ist heute „Dienstleistung“. Das bedeutet im Alltag, dass Behörden scheinbar willkürlich handeln können: Betroffene berichten, wie wahllos und kurzfristig Termine in Jobcentern vergeben werden. Wer sie versäumt oder eine Weiterbildungsmaßnahme nachvollziehbar als nutzlos ablehnt, dem wird das Arbeitslosengeld gekürzt. Kann es da überraschen, wenn viele das Vertrauen in unseren Sozialstaat verlieren?

Zu oft unterstellt man, Arbeitslose seien an ihrem Schicksal selbst schuld und müssten zur Arbeit gezwungen werden. Das ist aber häufig nicht der Fall. Viel wichtiger ist, ob der angebotene Job oder die Bildungsmaßnahme wirklich weiterhelfen. Auch wenn es richtig bleibt zu erwarten, dass Menschen arbeiten wollen: die Strafen sind zu krass! Ein Jobangebot grundlos abzulehnen kann teuer werden: statt 416 Euro pro Monat bekommt ein Arbeitsloser im Schnitt schon beim ersten Verstoß nur noch 307 Euro. Wer unter 25 Jahre alt ist sogar nur noch 289 Euro. Da ist es verständlich, dass viele Arbeitslose sich bedroht statt unterstützt fühlen.

Daher ist es endlich Zeit für eine Politik des aufrechten Gangs, die die Würde aller Bürgerinnen und Bürger wahrt. Wer seine Arbeit verloren hat, muss die Chance auf neue Arbeit bekommen. Dazu muss die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung für Qualifizierung weiterentwickelt werden. Auf deren Unterstützung muss jeder und jede Anspruch haben – egal in welchem Alter. Denn nicht immer ist ein Beruf gefragt; nicht immer reicht die Ausbildung, um angestellt zu werden oder einen eigenen Betrieb zu gründen.

Dafür brauchen wir einen starken Staat. Nur der Staat kann den Grundsatz der Chancengleichheit garantieren: dass jede und jeder, unabhängig vom sozialen Hintergrund, nach den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten am besten gefördert wird. Der Sozialstaat muss die Bedingungen schaffen, damit sich Betroffene weiterbilden oder umschulen können. Strafen dürfen nur noch in Ausnahmen drohen, weil die meisten Menschen arbeiten wollen und ihr Bestes geben. Außerdem muss das Existenzminimum so berechnet werden, dass es zum Leben reicht. Überhaupt fehlt eine zentrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger, die sie berät und unterstützt, wenn sie Sozialleistungen beantragen wollen.

Wir brauchen endlich neue Ideen im Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Der Staat muss heute passender auf unterschiedliche Lebensentwürfe reagieren. Bürgerinnen und Bürger brauchen Raum für Weiterbildung, berufliche Neuorientierung oder um selbst ein Unternehmen gründen zu können. Dafür sollte jede und jeder ein Chancenkonto in Höhe von 20.000 Euro bekommen, das über das gesamte Leben gilt. Ohne Zweifel viel Geld – doch genauso viel kostet die Unterstützung eines oder einer Arbeitslosen schon pro Jahr!

Wer hingegen bereits seit mehreren Jahren arbeitslos ist, dem hilft die Idee des sozialen Arbeitsmarkts: Langzeitarbeitslose bekommen Jobs angeboten, die der Staat mitfinanziert; nach Tarif bezahlt und ohne andere Arbeit zu verdrängen. Für die Betroffenen hieße das Licht am Ende des Tunnels und würde ihr Selbstwertgefühl stärken.

Keine Arbeit zu haben, das gehört zu dem Schlimmsten, was uns im Leben treffen kann. Das kratzt am eigenen Selbstbewusstsein und gefährdet die eigene Lebensplanung. In dieser Lage brauchen Menschen Hilfe anstatt sich bedroht zu fühlen – sie brauchen eine Politik der Chancen.