Warum sind im Plenum immer so viele Stühle leer...?

…ist wohl die Frage, die Wiebke von Besuchsgruppen am häufigsten gestellt bekommt. Und tatsächlich lässt sich kaum bestreiten, dass die meisten blauen Stühle bei einem Großteil der Plenardebatten leer bleiben. Nicht selten wird deshalb die Schlussfolgerung gezogen, unsere Abgeordneten würden nicht arbeiten. So verlockend simpel diese Vermutung zunächst jedoch auch klingen mag, von der Realität ist sie weit entfernt – das haben wir bei unserer Arbeit mit Wiebke schnell gemerkt. Doch wie ist die Leere im Plenarsaal stattdessen zu erklären? Was treiben unsere Abgeordneten den ganzen Tag, wenn sie nicht im Plenum sitzen? 

 

Da der Deutsche Bundestag als ein sogenanntes Arbeitsparlament organisiert ist, findet ein Großteil der Abgeordnetenarbeit in den Ausschüssen des Parlaments sowie in anderweitigen Arbeitsgruppen und Gremien statt. Wird von der Bundesregierung, dem Bundesrat oder dem Bundestag beispielsweise ein neuer Gesetzesvorschlag oder ein Antrag ins Parlament eingebracht, so erfolgt eine erste Lesung bzw. Debatte zwar im Plenarsaal. Die eigentliche Arbeit allerdings passiert außerhalb: Bei der Vorbereitung, damit es die Initiative überhaupt erst gibt und beginnt dann so richtig im Anschluss, wenn entschieden wurde, welche Ausschüsse das Gesetz oder den Antrag bearbeiten und eine finale Version erarbeiten sollen. Denn als ungeschriebene Regel gilt: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es reingekommen ist.  

 

Zurzeit gibt es im Bundestag 24 ständige Fachausschüsse, die mit der Überarbeitung von Anträgen und Gesetzen betraut werden können. Wiebke z. B. sitzt für die SPD-Bundestagsfraktion im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie im Ausschuss für Finanzen. Alle Ausschüsse werden nach einem einheitlichen Prinzip besetzt, das auf der Stimmverteilung im Bundestag basiert. Da die SPD bei der letzten Bundestagswahl 20,5 % aller Stimmen erhalten hat, darf sie in jedem Ausschuss 20,5 % der verfügbaren Plätze besetzen. Die übrigen 79,5 % der Plätze werden entsprechend mit Mitgliedern der anderen Fraktionen besetzt.  

 

Die Ausschusssitzungen finden jeden Mittwoch in Sitzungswochen statt und sind nicht öffentlich. Ergänzt werden sie durch sogenannte öffentliche Anhörungen, bei denen die Ausschussmitglieder  von Vertreterinnen und Vertretern aus der Praxis eine Einschätzung zu den geplanten Gesetzesänderungen erhalten. 

 

Wenn sich eine Mehrheit der Ausschussmitglieder auf einen neuen Gesetzestext einigen konnte, geht er zur zweiten Lesung zurück ins Plenum. Dann kommen alle Fachpolitikerinnen und -politiker im Plenarsaal zusammen und diskutieren das abgeänderte Gesetz. Nach der Debatte wird über das Gesetz abgestimmt. 

 

Bis es jedoch zur Abstimmung und einer erfolgreichen Gesetzesverabschiedung kommt, vergeht viel Zeit. Das Gesetz wird bis zur zweiten Lesung nämlich nicht nur in den Ausschusstreffen diskutiert, sondern auch innerhalb der einzelnen Fraktionen zur Debatte gestellt und bearbeitet. In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es dafür zu jedem der 24 ständigen Bundestagsausschüsse eine zugehörige interne Arbeitsgemeinschaft (AG), in der die SPD-Mitglieder eines jeweiligen Fachausschusses gemeinsam mit weiteren SPD-Abgeordneten vom Fach vergangene Ausschusssitzungen nachbereiten, kommende Sitzungen vorbereiten und Positionspapiere für die Fraktion erarbeiten. Zudem gibt es für jeden Themenbereich Berichterstatter und Berichterstatterinnen. Das sind Fachpolitikerinnen und -politiker, die der Fraktion aus ihren jeweiligen Ausschüssen berichten. Auf diese Weise sollen auch fachfremde Abgeordnete einen ungefähren Eindruck von den aktuellen Ausschussdebatten gewinnen und sich somit eine Meinung zu einzelnen Gesetzesvorhaben und Anträgen bilden können.  

 

All diese Treffen und Beratungen müssen, ebenso wie die zahlreichen weiteren fraktionsinternen Sitzungen und Zusammenkünfte, während der Sitzungswoche und deshalb auch während der Plenumszeiten stattfinden. Besonders wichtig sind für Wiebke die Berichterstattergespräche - dort trifft sie sich als Parlamentarierin mit den zuständigen Staatssekretärinnen und Staatssekretären und den Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern aus dem Finanz- oder Bildungsministerium um sich fachlich auszutauschen. Hinzu kommen regelmäßigen Treffen mit fraktionsinternen Interessenvertretungen. Am Rande von Plenumsdebatten, die außerhalb ihres Fachbereichs liegen, trifft sie sich beispielsweise immer wieder mit anderen jungen Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion oder mit vertrauten Kolleginnen und Kollegen der Parlamentarischen Linken, einer Strömung innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion, um gemeinsam an Strategien und Positionierungen zu arbeiten.  

 

Und auch wenn während des Plenums gerade keine Gespräche oder Fraktionstermine anstehen, gibt es für Wiebke noch viel zu tun: Besuchsgruppen aus dem Wahlkreis warten auf ihr Abgeordnetengespräch, Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern müssen beantwortet werden, die nächste Bundestagsrede muss geübt werden, die Presse wartet auf ein Statement und nebenbei will auch das nächste Berichterstattungsgespräch oder die nächste Ausschusssitzung gut vorbereitet sein.   

Wann immer im Bundestag deshalb Themen debattiert werden, die nicht in Wiebkes Fachbereich fallen, setzt sie abseits des Plenums lieber ihre finanz- und bildungspolitische Arbeit fort, eignet sich Hintergrundwissen zu den aktuellen Diskussionsschwerpunkten ihrer Fachausschüsse an, bespricht sich mit ihrem Team, besucht öffentliche Veranstaltungen zu ihren Schwerpunktthemen und, und, und... 

Würde Wiebke hingegen die ganze Sitzungswoche stur im Plenum sitzen, anstatt die Veranstaltungen und Treffen am Rande und abseits des Plenums wahrzunehmen, wäre eine politische Mitgestaltung kaum möglich. Entscheidend ist, dass sie ihre politischen Überzeugungen und ihr Fachwissen in die Ausschüsse trägt und anschließend auch im Plenum verteidigt. Sobald bildungs- oder finanzpolitische Fragen im Bundestag diskutiert werden, wird man Wiebke also im Plenarsaal antreffen. Bei fachfremden Tagesordnungspunkten dagegen überlässt sie das Plenum lieber den entsprechenden Expertinnen und Experten ihrer Fraktion und kommt ihren anderweitigen Verpflichtungen und Aufgaben als Abgeordnete nach – eigentlich eine ganz normale Art der Arbeitsteilung, wie sie unzählige Unternehmen praktizieren.  

 

Tatsächlich lässt sich der Deutsche Bundestag als Arbeitsparlament gut mit einem Unternehmen vergleichen, in dem es verschiedene Abteilungen gibt – zum Beispiel die Geschäftsführung, das Marketingteam, die Produktion oder das Sekretariat. In jeder dieser Abteilungen sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit spezifischen Qualifikationen eingestellt, die dazu beitragen, dass die Abläufe in den einzelnen Abteilungen und somit auch der gesamte Unternehmensbetrieb reibungslos funktionieren. Ihre Qualifikationen sind jedoch auf die Arbeit in den einzelnen Abteilungen zugeschnitten – die Geschäftsführung wäre mit den Sekretariatsaufgaben ebenso überfordert, wie das Marketingteam mit den Produktionsaufgaben. Nur, wenn die Geschäftsführung zur Betriebsversammlung bittet, kommen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammen, weil es um die gesamte Ausrichtung des Unternehmens geht. Das ist im Bundestag genauso: Wenn Angela Merkel spricht, sind fast alle Abgeordneten da, weil es um das große Ganze und die übergeordnete Zukunft unseres Landes geht.  

 

Im Bundestag wird also jede Menge gearbeitet – gerade wenn die blauen Stühle im Plenum unbesetzt sind. Das Plenum dient zwar der formalen Beschlussfassung und erfüllt eine wichtige Funktion, indem es die Politik der Öffentlichkeit zugänglich macht. Der größte und entscheidende Teil der politischen Arbeit spielt sich jedoch hinter den Kulissen ab, wenn in unzähligen Terminen, Sitzungen und Randgesprächen Gesetze ausgearbeitet, Meinungen gebildet und Fraktionsentscheidungen getroffen werden. Wer nicht arbeitet, sind also vielmehr jene Abgeordneten, die ständig im Plenum rumsitzen, anstatt sich an der inhaltlichen Arbeit zu beteiligen.  

 

Nelis Heidemann und Greta Wienkamp